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Österreich, Recht, Wien 01.10.2020

Mietervereinigung erkämpft Sieg für Mieter vor Höchstgericht

  • Wohnhaus Radetzkystraße in Wien; Sommer 2020 - Fotomontage: MVÖ

Für die Mieter des Hauses Radetzkystraße gingen die Experten der Mietervereinigung bis vor den Obersten Gerichtshof – und gewannen den jahrelangen Rechtsstreit in jeder Instanz. Das ist freilich noch nicht das Ende der Geschichte.

 

Vier Mieter. Noch. Über den Winter, vor dem Lockdown, waren es noch fünf.

Erika N. (Name von der Redaktion geändert), seit 1966 in dem Haus in der Radetzkystraße im 3. Bezirk daheim, kann sich nicht erinnern, dass jemals weniger Leute darin gewohnt hätten. Mehr als 30 Mieter gingen hier einst ein und aus und belebten die vier Etagen mit Blick auf Donaukanal und Franzensbrücke.

Eine einzige Wohnung stand leer, als das Haus im September 2015 den Besitzer wechselte. Schon kurze Zeit später, im Sommer 2016, wurde das Haus erneut verkauft. Der neue Eigentümer verbreitete Unsicherheit unter den Bewohnern, sprach von Baumängeln im Haus, die aufwendig behoben werden müssten. In leer stehende Wohnungen seien »interessante Mieter« einquartiert worden, erinnert sich die verbliebene Hausgemeinschaft.

»Österreich ist ein Rechtsstaat«
Im März 2017 erwarb der jetzige Eigentümer das Haus. Nur noch acht Wohnungen waren unbefristet vermietet. Der Eigentümer schickte einen Spezialisten für »Ausmietung« – so umschreibt man in der Branche Techniken des Entfernens langjähriger Mieter, um Wohnungen leer zu bekommen – durchs Haus. Der Ausmieter garnierte seine Besuche bei den Mietern mit der Drohung, dass das Haus in einem schlechten Zustand sei und daher abgerissen würde. Die Mieter ließen sich allerdings nicht einschüchtern. »Wir wollten nicht ausziehen«, versicherten sie gegenüber Fair Wohnen. Nachsatz: »Österreich ist ein Rechtsstaat.«

Plötzlicher Abbruch
Ende Juni 2018, wenige Tage vor einer Verschärfung der Wiener Bauordnung, begann der Besitzer mit Abbrucharbeiten. Acht Mieter wohnten damals noch im Haus. Sie waren vorab nicht informiert; erst nach Intervention der Baupolizei wurde der Abriss gestoppt. Da war freilich schon großer Schaden entstanden – das Dach war entfernt, der vierte Stock zum Teil demoliert, Fenster herausgerissen. Die Mietervereinigung (MVÖ) bot – unterstützt vom Rechtshilfefonds der Stadt Wien – den überrumpelten Mietern rasche rechtliche Hilfe an. Seither beschäftigte der Fall die Gerichte und ging durch alle Instanzen (siehe Chronik).

Erfolg für Mieter vor OGH
Schließlich bestätigte im Juni dieses Jahres der Oberste Gerichtshof (OGH) die Entscheidungen des Bezirks- und Landesgerichts, wonach der Eigentümer Dach und Fenster wiederherstellen muss. Damit endet das Verfahren, wie es begonnen hat: mit einem Sieg für die Mieter. »Wir haben jedes Verfahren in jeder Instanz erfolgreich für die Mieter beendet«, sagt MVÖ-Wohnrechtsexperte Andreas Pöschko.

Rückblickend sei das Vorgehen der MVÖ nicht nur rechtlich zielführend gewesen sondern habe auch dazu beigetragen, dass sich der Eigentümer nicht mehr hinter der Anonymität eines Büros verstecken konnte und sich bei einer Einvernahme direkt vor Gericht zu verantworten hatte. »Herr Pöschko hat sehr gut gearbeitet«, lobt Altmieterin N. den MVÖ-Juristen im Gespräch mit Fair Wohnen.


Frist läuft
Ende gut, alles gut? Noch nicht ganz. Pöschko will die Entscheidung der Höchstrichter als weiteren Etappensieg verstanden wissen. Mit Rechtskraft dieser Entscheidung beginne nämlich eine Frist von acht Monaten zu laufen, innerhalb derer die aufgetragenen Erhaltungsarbeiten (Dach und Fenster) erledigt werden müssen.

»Derzeit ist es ruhig im Haus, es sind keine Arbeiten in Gang«, erzählt Erika N. Die Grundversorgung (Strom, Gas, Wasser) sei intakt. Allerdings wären die Türen vieler Wohnungen aufgebrochen und nur notdürftig wieder verschlossen worden. Auch die Fensteröffnungen in den leeren Wohnungen seien nach wie vor nur provisorisch verkleidet.

Was, wenn...?
Die Frist für die Erhaltungsarbeiten endet im Februar 2021. Laufe die Frist ungenützt ab, werde die MVÖ einen Antrag auf Zwangsverwaltung stellen, erklärt Pöschko. In einem solchen Verfahren sind wiederum alle Instanzen – bis zum OGH – möglich. Bis ein Zwangsverwalter rechtskräftig eingesetzt ist, könnten also noch einmal Jahre vergehen. Die MVÖ werde jedenfalls dranbleiben.

»Nicht aufgeben«
Mieter, die befürchten, dass ihr Haus ebenfalls zum Spekulations-, vielleicht sogar zum Abbruchobjekt werden könnte, sollten »nicht aufgeben und sich an eine Mietervereinigung wenden«, rät Altmieterin N. »Ich würde es noch einmal genauso machen.«

Rechtzeitig Rechtsbeistand organisieren
»Werden Sie aktiv, organisieren Sie sich rechtzeitig einen Rechtsbeistand«, rät auch Pöschko. Warnsignal sei ein beginnender Verfall des Hauses. »Wenn offensichtliche Erhaltungsmaßnahmen nicht mehr gesetzt oder solche Arbeiten plötzlich eingestellt werden, dann weist das, gepaart mit ein- oder mehrfachem Verkauf des Hauses, in Richtung eines Spekulationsobjekts«, sagt Pöschko.

 

Haus Radetzkystraße in Wien; Foto: MVÖLinks: So sah das Haus im Jahr 2016 noch aus. Rechts: Wohnhaus in der Radetzkystraße Anfang September 2020 – Faksimile: Auszüge aus dem Sachbeschluss des Bezirksgerichts.

 

Chronologie

21. Juni 2018 Der Eigentümer lässt Abrissarbeiten in dem bewohnten Haus beginnen – kurz vor einer Anfang Juli in Kraft tretenden, strengeren Bauordnung, die Altbauten unter größeren Schutz stellt. In den folgenden Tagen wird das Dach sowie ein Teil der obersten Etage abgetragen, ehe die Baupolizei die Arbeiten stoppt.

5. September 2018 Die Mietervereinigung bringt eine einstweilige Verfügung (EV) beim Bezirksgericht ein, um die Mieter vor einem weiteren Abriss zu schützen und eine Abdichtung des Daches bzw. der obersten Geschossdecke und ein Verschließen der Fensteröffnungen zu erreichen.

3. Oktober 2018 Die Baupolizei trägt dem Eigentümer auf, die noch stehende Kamingruppe und einige ebenfalls noch stehende Mauern aus Sicherheitsgründen abzubrechen.

16. November 2018 Die in der EV bzw. von der Baupolizei aufgetragenen Maßnahmen sind zum Stichtag nicht zur Gänze umgesetzt.

26. November 2018 Die Mietervereinigung bringt bei Gericht einen Antrag auf Zwangsverwaltung ein, um die Maßnahmen zwangsweise umsetzen lassen zu können.

12. Dezember 2018 Bei einer Begehung des Hauses wird festgestellt, dass die Fensteröffnungen in der Zwischenzeit wind- und regendicht verschlossen wurden. Es wurden auch Maßnahmen zur Abdichtung der ersten durchgehenden Etagendecke unter dem (fehlenden) Dach gesetzt.

15. Jänner 2019 Das Wiener Landesgericht lehnt den Rekurs (Rechtsmittel gegen eine Entscheidung, über die das instanzenmäßig übergeordnete Gericht entscheidet, Anm.) des Eigentümers ab und bestätigt damit die EV.

18. Juni 2019 Entscheidung des Bezirksgerichts: »Für einen dauerhaften Erhalt des Substanz des Hauses (auch ohne vierten Stock) muss wieder ein Dach errichtet werden.« Ob Dach samt Dachstuhl oder Flachdach, sei Sache des Eigentümers.

22. November 2019 Das Landesgericht lehnt den Rekurs des Eigentümers ab und bestätigt die Entscheidung des Gerichts vom 18. Juni. Der Eigentümer legt erneut Rechtsmittel ein.

27. April 2020 Es beginnen wieder Abbrucharbeiten im Haus; laut Mietern wird bis zum 3. Stock alles abgetragen.

10. Juni 2020 Der Oberste Gerichtshof (OGH) bestätigt die Entscheidungen von Bezirksgericht und Landesgericht. Das Verfahren ist vorerst beendet – die Frist für die Durchführung der aufgetragenen Arbeiten endet im Februar 2021.

31. August 2020 Das derzeitige Dach ist die Geschossdecke des 3. Stocks, mit Bitumenbahnen abgedichtet. Regenwasser wird auf den Gehsteig geleitet. Fensteröffnungen sind zum Teil verschalt.

 

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